BRAZIL+BERLIN – Contemporary Brazilian Art in Berlin-Mitte
Summer 2006



Manoel Francisco Lopes de Faria
co-curator: Joachim Schmid
Galerie Blickensdorff



Lia Chaia, Odries Mlaszlo, Ding Musa, Marcelo Cidade, Chiara Banfi
co-curator: Daniela Labra
partner: Galerie Vermelho, SP
Galerie DNA




Alice Miceli, Sara Ramo, Dias & Riedweg, Leandro Lima & Gisela Motta, Premio Rumos Artes Visuais 2006 including Alice Miceli, Amanda Melo, Bernardo Pinheiro, Eduardo Srur, Jussara Correia
co-curators: Ellen Blumenstein and Katharina Fichtner
Partners: Instituto Cultural Itaú and Instituto Sérgio Motta
Kunstwerke



Gustavo da Lina
Galerie Nering+Stern


Sidney Philocreon, Monica Rubino, Nele Azevedo, Rosana Ricalde, Valerie Dantas Mota, Thereza Salazar, Isabelle Borges, Nino Rezende, Alex Cabral
co-curator: Sidney Philocreon
Partner: Internship Program Linha Imaginária
Galerie Schuster & Scheuermann



Joaquim Paiva, Marlene Almeida, Márcia X (Co-curator: Claudia Saldanha), Orlando Faria, Paulo Vivacqua
Galerie weisser elefant



Zeitgenössische brasilianische Kunst in Mitte
Tereza de Arruda, Kuratorin

Lateinamerika war seit den ersten Jahren nach seiner "Entdeckung" ein Forschungsgegenstand für europäische Geistesmenschen, Wissenschaftler und Künstler. Der Eindruck, den die Neue Welt vermittelte, wurde von reisenden Künstlern wie Frans Post, Edouard Hildebrandt, Albert Eckout und anderen, die den lateinamerikanischen Kontinent im Zuge offizieller Expeditionen erkundeten, sehr gut dokumentiert. Die Eindrücke dieses kulturellen Erbes sind Teil der Bestände der bedeutendsten europäischen Museen wie unter anderen des Louvre, des Berliner Kupferstichkabinetts, des Dänischen Nationalmuseums.

Brasil + Berlin – Zeitgenössische brasilianische Kunst in Mitte – ist aus einer Untersuchung und Beobachtung der bilateralen Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Brasilien in der jüngsten Vergangenheit entstanden. Ein Ausgangspunkt dieser Studie ist die Analyse der Präsenz brasilianischer Kultur und Kunst in den offiziellen Programmen deutscher Kulturinstitutionen und Museen, die sich der Verbreitung der zeitgenössischen Kunst aus aller Welt widmen.

Die Präsenz Brasiliens in Deutschland und in deutschen Institutionen beruht lediglich auf vereinzelten und sporadischen Initiativen, obwohl das Land aufgrund der zahlreichen Auswanderer, die aus politischen oder persönlichen Gründen in die Neue Welt aufbrachen, eine historische Verbindung zu Deutschland besitzt. Auch war Deutschland auf der ersten Biennale von São Paulo 1951 vertreten – ein Umstand, der den Dialog zwischen beiden Ländern intensivierte.

Das Projekt Brasil + Berlin beginnt mit der simultanen Vorstellung zeitgenössischer brasilianischer Kunst in zahlreichen Galerien in Berlin-Mitte. Dieser Bezirk hat sich seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 zu einem Zentrum der bildenden Künste und Schauplatz der Kunstszene entwickelt. 1992 konnte das Projekt „ 37 Räume", das 37 Örtlichkeiten in der Auguststraße mit Projekten verschiedener Kuratoren gestaltete, etwa 7.000 Besucher verzeichnen. Gerade jetzt greift die Berlin Biennale diesen Ansatz für ihre vierte Auflage wieder auf und lädt ein großes Publikum dazu ein, zwölf so unterschiedliche Ausstellungsorte wie die Kunstwerke oder auch Privatwohnungen zu besuchen.

Es gab im Berliner Raum bereits mehrere Versuche, die Kultur- und Kunstszenen Deutschlands und Brasiliens einander näher zu bringen; zu erwähnen wäre das von Nelson Brissac Peixoto initiierte Projekt Brasmitte, das 1996 im Zuge einer Intervention im städtischen Raum einen Austausch zwischen dem Viertel Brás in São Paulo und der Berliner Mitte anregte.

Brasil + Berlin bleibt nicht auf ein Thema, eine Generation oder eine spezielle Strömung beschränkt, sondern versucht, brasilianisches Kunstschaffen vor dem Hintergrund seiner Daseinsbedingungen darzustellen. Dieser Prozess begann 2003, als ich beim Programm Curator`s Choice auf der Kunstmesse Art Frankfurt Gelegenheit hatte, die brasilianische Produktion zu besichtigen. Die Verschiebung des Fokus auf Brasília war ein recht innovativer Schritt, denn die brasilianische Hauptstadt zeichnet sich durch eine Monumentalität aus, die sich weder ihren Bewohnern noch den ortsansässigen Künstlern verpflichtet fühlt.

Diese auf einen genau begrenzten Stadtbereich beschränkte Erfahrung hat mein Interesse dafür geweckt, zur weit gespannten Perspektive zurückzukehren und eine umfassendere künstlerische Darstellung Brasiliens nach Deutschland zu holen. Dies wird auch notwendig aufgrund des breiten Spektrums des Kunstschaffens in Brasilien, das sehr verschiedene Ausprägungen besitzt und sich über die so unterschiedlichen Regionen des riesigen Landes verstreut.

In diesem Moment tritt die Forschungsarbeit in eine neue Phase, nun in Kooperation mit Shaheen Merali, der Brasilien zum ersten Mal besuchte. Sein jungfräulicher und neugieriger Blick setzte einen Prozess intensiver und umfassender Auseinandersetzung in Gang, der dringende Diskussionen über die Realität Brasiliens und ihren Niederschlag im künstlerischen Schaffen wie auch über die Form der Vermittlung dieses nationalen Erbes einschließt.

Drei Jahre danach wird Brasilien in Deutschland zu einer Realität, und dies dank des Kulturprogramms Copa da Cultura, in dessen Zuge das Produkt "Brasilien" im Jahr der von Deutschland veranstalteten Fußballweltmeisterschaft offiziell vermarktet wird und das Projekte wie "Brasil + Berlin Arte Contemporânea Brasileira em Berlim Mitte / Zeitgenössische brasilianische Kunst in Mitte" fördert. Brasilianische und deutsche Galerien und Institutionen haben sich diesem Projekt angeschlossen und seine Umsetzung ermöglicht.

Das Programm beinhaltete ein sehr dichtes und vielfältiges Format, das von lyrisch und spielerisch bis zu grobschlächtig und aggressiv alle Schattierungen umfasste. Es handelte sich dabei nicht um ausschließliche Eigenschaften der brasilianischen Wirklichkeit, doch sie transportieren ein einzigartiges sozio-kulturelles Erbe, das aus der historischen Erfahrung der Kolonisierung heraus entstand und von den so genannten "Brasilianern" in den vergangenen Jahrzehnten bearbeitet wurde.

Das also ist das brasilianische Nationalprodukt!



Brasilien – eine Feldstudie
Shaheen Merali

In dem Chaos, das wir Rio nennen, wo der Lärm um sein eigenes Echo kämpft, der Dreck in den kleinen Nebenstraßen Interieur für Penner ist, macht sich der Mittelstandsarbeiter Gedanken um den nächsten Tag, während er gemächlich an seinem Take-away-Snack knabbert.

Destiny is a strike rather then an attack.

Sogar in den kleinen Läden wird jeder Fleck ausgenutzt, um Käufer durch Werbung anzulocken. Ein Frisör stapelt massenweise Stühle vor dem Salon, ein Wasserskisimulator lehnt gegen eine Wand, um Leute zu beeindrucken, und sogar die Kaffees im Vordergrund des Salons bieten reihenweise Telefonplätze an.

Trotz der Reizüberflutung werden Bücher gelesen, wird Kaffee getrunken und werden Gespräche genossen. In diesem engen Zusammenleben werden kleine, gegrinste Bemerkungen von der Straße aufgeschnappt und in Begegnungen umgewandelt – der ganz normale Wahnsinn einer boomenden und lebendigen Metropole.

Kokosbäume, die in den Himmel hineinragen und gefüllt sind mit plappernden Papageien, die in den verrückten Singsang des Tages integriert werden.

In den Seitenstraßen sind alte Damen zu sehen, wie sie mit ihren Plastiktüten nach Hause schlendern. Ein Anflug von Mitgefühl kommt auf und Bedenken, wie diese ältere Generation mit dem Trubel der neuen mithalten kann.

Alt und Jung spiegeln die Unterschiede zwischen Weiß und Schwarz, die in Brasilien noch heute stark ausgeprägt sind. Ähnlich wie in Nordamerika und Europa werden die Hautpigmente auch in Kuba zum ausschlaggebenden Erfolgsrezept des Lebens.

In der Bevölkerung spiegeln sich die afrikanischen und europäischen Wurzeln, ein guter Schuss Ureinwohner ist beigemischt. Die Wurzeln erkennt man sehr gut an Schönheitsmerkmalen, ausgedrückt in Frisuren oder Make-up. Leider drücken sich ebenso Ungerechtigkeiten in Hinsicht auf Geld und Möglichkeiten auf ein besseres Leben aus.

Brasilien erweckt den Eindruck, sich in Bezug auf Diskriminierung nicht ausdrücken zu können oder wollen. In den USA wurden in den letzten Jahren solche Ungerechtigkeiten aufgezeigt, da sie wie zum Beispiel durch die Folgen der Verwüstung von New Orleans offensichtlich wurden. Man kann es sich nur als Alptraum vorstellen, würde dergleichen Katastrophe in Rio oder Sao Paulo passieren, in Metropolen mit Einwohnerzahlen, die die 12 Millionen übersteigen.

Aber unglaublicherweise gleicht der Fußball jegliche Unterschiede aus, überwindet die Diskriminierung, und die Spieler werden nach ihrem Jinga und puren Können beurteilt nicht nach Herkunft oder Hautfarbe. Fußball hat sich als Stärke entpuppt und definiert brasilianische Kultur und die Weltanschauung eines jedweden Brasilianers. Fußball verbindet, lässt alle Unterschiede vergessen, und auf den Straßen symbolisiert er wie der Karneval Brasiliens Stolz, Ehre und Ansehen in der Welt. Der Fußball symbolisiert Hoffnung und gibt Kraft, die Probleme der südamerikanischen Länder anzupacken und zu meistern – wie ein Fußballspiel.


Das Projekt wurde von Tereza de Arruda, Claudia Pinheiro und Matthias Fenkes koordiniert.

Unterstützung u.a.:
Brasilianisches Kulturministerium, Program Copa da Cultura
Kunstwerke
Instituto Itaú Cultural
Instituto Sérgio Motta

In Zusammenarbeit mit dem Haus der Kulturen der Welt.