BRAZIL+BERLIN > Kunstwerke



Aktuelle Videokunst aus Brasilien

Alice Miceli, Sara Ramo, Dias & Riedweg, Leandro Lima & Gisela Motta, Premio Rumos Artes Visuais 2006 including Alice Miceli, Amanda Melo, Bernardo Pinheiro, Eduardo Srur, Jussara Correia

Co-curators: Ellen Blumenstein and Katharina Fichtner
Partners: Instituto Cultural Itaú and Instituto Sérgio Motta

Seit einigen Jahren lebt die zeitgenössische brasilianische Kunst auf: heute gehört sie zu den lebendigen und expandierenden Szenen Südamerikas. Neben der São Paulo Biennale, die alle zwei Jahre die internationale Kunstwelt nach Brasilien lockt, gehört das Filmfestival von Rio de Janeiro zu den spannendsten und aktuellsten Veranstaltungen seiner Art; junge Galerien finden Anschluss an den internationalen Kunstmarkt, brasilianische Künstler wie Ernesto Neto, Dias/Riedweg, Rivane Neuenschwander oder Marepe werden weltweit ausgestellt. Von diesen international arbeitenden Künstlern aber abgesehen, ist die junge brasilianische Videokunst hier in Deutschland bisher kaum bekannt.
Wenn die Fußballbegeisterten ihre Erwartungen zur Weltmeisterschaft auf Brasilien richten, möchten wir dieses gesteigerte Interesse nutzen, um im Rahmen von Copa da Cultura aktuelle Video- und Filmarbeiten des Landes vorzustellen. Sicherlich kann man nicht „die“ brasilianische Videokunst beschreiben; Markt und Kunstkontext sind wie überall schon länger so international, dass es unzählige Einflüsse gibt, die nicht lokalen Traditionen zuzuordnen sind.
Dennoch lassen sich Spezifika ausmachen, die für das Land und seine (Kunst-) geschichte relevant sind: Sehr viel von dem, was heute noch passiert, knüpft an die großen „Heroen” der 60er und 70er Jahre in Brasilien, Lygia Clark, Lygia Pape und Helio Oiticica an – unschwer abzulesen auch am aktuellen Schwerpunkt der Biennale von São Paulo 2006, die sich neben Marcel Broodthaers explizit auf utopische Modelle aus brasilianischer Architektur und Kunst der 60er Jahre und auf das theoretische Umfeld von Oiticica rückbezieht.
Oiticica wird heute unter anderem als der Begründer der Tropicália-Bewegung bezeichnet, die nach einer seiner Installationen benannt wurde und die die brasilianische Kunst, Politik, Musik und Mode in den 60ern revolutioniert und neu definiert hat. Es lässt sich beobachten, dass viele zeitgenössische Künstler wie Assume Vivid Astro Focus oder Alice Micelli (wie auch Beatriz Milhazes) mit der Farbigkeit und den floralen, psychedelischen Elementen in ihren Arbeiten an diese ästhetische Tradition anknüpfen und sie mit aktuellen visuellen Elementen und Themen wie Gay- und Gender-culture fortsetzen.
Auch der Einfluss von Lygia Clark und Lygia Pape ist noch in vielen zeitgenössischen Arbeiten deutlich spürbar: die ausgeprägte Körperlichkeit und die Auseinandersetzung und der Umgang mit dem eigenen Körper sind nicht nur zentrale Elemente der gesamten brasilianischen Kultur (Karneval, Fußball, Copa Capana), sondern knüpfen im Kontext der zeitgenössischen Kunst häufig an diese Vorbilder an. Amanda Melo oder Naiah Mendonca beispielsweise setzen sich intensiv mit weiblichen Körperbildern und -vorstellungen auseinander, während Eduardo Srur die mediale Vermittlung von Schönheitsidealen kritisch in Frage stellt.
Das utopische Potenzial der 60er und 70er Jahre ist im Unterschied zu Europa und den USA in Brasilien noch in vielen Produktionen lebendig. Viele Künstler setzen sich mit soziokulturellen Fragen und politischen Problemen auseinander. Angesichts der extremen gesellschaftlichen Gegensätze im Land scheint die Kamera dort noch als eine Möglichkeit zu bestehen, auf die soziale Realität abbildend Einfluss zu nehmen. Künstler wie Diaz und Riedweg, Pablo Pijnappel oder Tamar Guimares beschäftigen sich mit Migrations-Biografien, gesellschaftlicher Integration und kulturellen Differenzen zu Europa. Während Kiko Goifman mit seinem Film „Territorio Vermelho“ über die Straßenverkäufer in São Paulo die urbane Realität der Großstädte dokumentiert, realisiert Monika Nador in Favelas vor Ort Projekte mit deren Bewohnern und gestaltet damit deren Lebenssituation aktiv mit.
Ellen Blumenstein/Katharina Fichtner


KW Institute for Contemporary Art [visit website]
Auguststraße 29, 10117 Berlin, tel. 030 2434590